Teil I, „Nachtfrost“
Fränkische Schweiz. Zehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg. Winter. Der kleine Jockel, dessen Mutter bei seiner Geburt gestorben
ist, lebt mit seinem Vater Andres, einem Forstmeister und der französischen Haushälterin Lorraine im Forsthaus am Waldrand. Jockel
verliebt sich in Betti, die ein Jahr jünger ist als er und bei der Einschulung bereits lesen und schreiben kann. Intelligenter als
die anderen Kinder aber stark kurzsichtig und schielend ist sie deren Sündenbock, wird verspottet, geschlagen und isoliert. Sie
schreibt Gedichte, ist mondsüchtig und wird in ihren Träumen von unerklärlichen Ängsten regelrecht heimgesucht. Eines Tages, als
sie im Forsthaus schläft, verläßt sie in der Nacht im Mondrausch das Haus und wird anderntags im nahe gelegenen See tot aufgefunden.
In ihrem letzten Tagebucheintrag hat sie geschrieben, dass ihre Seele, wenn sie tot ist, auf Jockels Kopf fliegt und mit ihm weiter
durchs Leben geht. Der glaubt daran. Er kann den Tod der Freundin kaum verkraften. Die Haushälterin und sein Vater werden ein Paar und
verloben sich. Zwei Jahre nach dem Tod der Freundin hat Jockel einen Unfall und verletzt sich das Knie. Eine unbedeutende Stauchung,
doch Auslöser für ein Martyrium an dessen Ende der Tod steht. Er hat Knochenkrebs, an dem er stirbt.
Teil II, „Das weiße Licht“
Frankreich, Haute Savoyen. Im Grenzgebiet zur Schweiz findet Andres Lorraine wieder. Er hatte sie jahrelang erfolglos gesucht,
zu trinken begonnen, schließlich einen Schlaganfall erlitten, der ihn zum Frührentner gemacht und für Jahre in den Krankenstand
versetzt hatte. Er erfährt nun, dass sie, als der Junge bereits im Sterben lag, schwanger wurde, einen Tag nach Jockels Beerdigung
eine Fehlgeburt erlitten und über Nacht die Gegend verlassen hatte, da sie davon überzeugt gewesen war, an dem Unglück schuldig zu
sein. Was sie selbst damals nicht gewusst hatte: Sie war mit Zwillingen schwanger und nur eines der beiden Kinder war frühzeitig
verstorben. Der andere Zwilling, Joèlle wurde geboren und lebte ohne Vater, losgelöst von Lorraines Vergangenheit mit ihr in Frankreich.
Teil III, „Joèlle“...
...wird von Joèlle erzählt, die auf der Suche nach ihrem Vater die Wahrheit erfährt.
Im Epilog kommen die drei Menschen, Lorraine, Andres und ihre gemeinsame Tochter zusammen.
Erster Teil - Nachtfrost, Kapitel 1
Wie ein böses Tier war der Orkan über die Gipfel der Bergkette ringsum ins Tal herein gestürzt und hatte dort sein Unwesen getrieben.
Häuser wurden abgedeckt, Strommasten umgeknickt, als hätte man sie aus Reisig geschnitzt; Stromleitungen hingen auf den
Straßen oder über mittendurch gebrochenen Bäumen, die, noch fest im Boden verankert, ihre Stämme nach oben reckten, um sie auf
halber Höhe im spitzen Winkel gesplittert abfallen zu lassen auf die Erde. Ihre Kronen lagen daneben, abgeschnitten von den Wurzeln,
die sie nun nicht mehr versorgen konnten. Wie die Hühner, wenn die alte Meiergoblerin ihnen den Kragen lang gezogen hatte, noch
lebendig über den Hof rannten und ihre Köpfe zum Ergötzen der Kinder neben sich herzogen. Manche der Riesen waren gar entwurzelt
und lagen zur Gänze über den Wegen. Vollständig, gesund und dennoch dem baldigen Tod geweiht. Gefällt in der scheinbaren Klimax
ihres Daseins, als hätte der Tod nicht warten wollen und unter Zuhilfenahme des Sturms, den Vorgang beschleunigt. Bald würden die
Stämme geschält und im Sägewerk zum langsamen Austrocknen aufgeschichtet, um später weiter verarbeitet zu werden. Der hier würde
schöne, dicke Bretter ergeben, massive Tische, an denen sich Familien versammeln würden, um je nach Finanzlage ein armes oder
reichhaltiges Mahl gemeinsam einzunehmen. Vielleicht würden dereinst Politiker darum herum Platz nehmen und das Ende des Daseins
auf dieser Erde beschließen.
Anderntags traten die Menschen aus den Häusern und gewahrten das Ausmaß der Verheerung. Und kaum, dass sie die Aufräumarbeiten
beendet hatten, zog der Winter herein in die abgeschlossene Welt des kleinen Tals.
Zuerst spürte man es in der Luft, die plötzlich still wurde. Es schlief der Wind, als frischte er seine Kräfte auf, um
demnächst die eisigen Schneestürme herein zu jagen. Die Zeit des Frosts begann.
War man kürzlich noch leicht und frei in den sonnigen Tag getreten, so zog man jetzt die Schultern hoch, als wollte man
den Kopf darin versenken und hüllte sich in wollenes Tuch.
Klirrkälte ließ die Gräser und Büsche erstarren, überstäubte sie mit der matt schimmernden Weiße des Raureifs, und ließ
sie für eine Weile wie gläserne Kostbarkeiten im Licht des aufgehenden Tages erstrahlen.
Noch glitzerte es und blinkte; bald käme der Tod, der wenig beeindruckt von dieser Pracht, schwarze Fäulnis ins Erdreich
drückte, auf dass im Frühjahr nach der Schneeschmelze neues Leben daraus erwüchse.
Auf den Schnee wartete man noch. Sehnte sich nach seiner weichen Sanftheit, der Ruhe, die er mit sich brachte. Er legte
sein weißes Tuch über die Welt und verdeckte die faulende Metamorphose unter sich, als wollte er sie vor dem lüsternen Voyeurismus
der Menschen beschützen.
Still würde es, und selbst das Gejauchze der Kinder, die endlich ihre Schlitten und Skier auspacken konnten, wäre gedämpft
von der wattigen Weichheit, die in der Luft lag.
Wenn man am nächsten Morgen den ersten Blick aus dem Fenster tat und eine unberührte, weiße Welt erblickte, empfand man
nichts als Frieden, bevor man seufzend die schweren Schuhe anzog, die gefütterten Handschuhe überstreifte, die Schneeschippe aus
dem Abstellraum holte und vor das Haus hinaustrat, um der Schönheit zumindest vor der eigenen Türe ein vorläufiges Ende zu bereiten.
Rezension
Der Klappentext verrät nicht sehr viel. Inhaltlich eher zurückhaltend formuliert, macht er nicht gerade
neugierig zu erfahren, wie es sich nun genau mit jener jungen Familie und den Kindern verhält. Das schlicht
gehaltene Cover könnte einem dann schon den Rest geben ... wenn dieser Titel nicht wäre.
„Schneewärts“ ist nur ein Wort. Scheinbar ebenso schlicht und doch anders und viel mehr. Wen allein der
geheimnisvolle Klang dieses Wortes neugierig macht, befindet sich bereits auf dem richtigen Weg. Wer das
Buch nicht sofort beiseite gelegt und sofort vergessen hat, wird schon auf den ersten Seiten belohnt werden ...
... wie jenes Mädchen, welches Bücher liebt. Heimlich liest sie, was sie unter ihrem Bett versteckt. Lesen und
Schreiben brachte sie sich selbst bei. Betti bedient sich aus dem Bücherregal ihres Vaters oder aus jener Kiste,
die sie auf dem Dachboden fand. Nichts bedeutet ihr mehr als jene Zeilen, die sie „förmlich inhaliert“.
Bücherregale sind für sie eine Offenbarung, aber auch Texte, die für ihr Alter wenig geeignet sind. Welches
sechsjährige Kind weiß schon Trakl als Lieblingsautor zu nennen! Ein eisiger Wind weht ihr nach der Einschulung
entgegen. Ihr Wissen und ihre Art erzeugt in der Klassengemeinschaft schnell Neid und Ablehnung ...
„Schneewärts“ ist aber auch die rührende Geschichte von Lorraine du Barre, jener Pariser
Literaturwissenschaftlerin, die zur Geburt des Kindes ihrer Freundin Christine nach Wuppertal reiste,
ohne zu wissen, wie das Schicksal ihren weiteren Lebensweg gestalten sollte. Genannter Text verrät ja ein
wenig davon, aber dabei will es der Rezensent auch belassen.
Anna Cron erzählt dieses erschütternde Familiendrama in ebenso einfühlsamer wie bildgewaltiger Sprache. Alle
Zeit der Welt nimmt sie sich für die Charakterisierung ihrer Figuren und deren Beweggründe. Soziale Strukturen
skizziert sie mit beängstigender Präzision, insbesondere was die „Mechanismen der Macht“ betrifft, die, je nach
gesellschaftlichem Rang und Stand, mehr oder weniger ausgeprägt und doch immer nach dem gleichen diabolischen
Muster zu funktionieren scheinen.
Dem gegenüber stehen poetische Beschreibungen von Natur im Allgemeinen, Landschaft im Besonderen, dem Wandel
der Jahreszeiten und überhaupt der Veränderung von Allem. Auf ein wundersames Wechselbad der Gefühle sollte
man sich also schon einstellen. Würde man zu jener ambivalenten Mischung aus heiler Welt, menschlicher
Grausamkeit, Lebenslügen, fatalen Irrtümern und dem erbarmungslosen Lauf der Dinge jetzt noch Lores Kochrezepte
erwähnend addieren, würde das jeden Rahmen sprengen. Macht aber nichts, denn in eine der üblichen Schubladen
passt das Buch sowieso nicht. Und das ist verdammt gut so!
Selten so gelesen.
Thomas Lawall, querblatt, Februar 2020