Land nach Sturm

Über das Buch

Sie sitzt am Fenster und sieht hinaus - auf das Leben, das in ihr nicht mehr stattfindet. Sie erinnert sich und versucht verzweifelt sich gegen die Depression zu wehren, die zunehmend Besitz von ihr ergreift. Doch es gibt ihn noch, diesen einen Augenblick der Nähe, das Gefühl von Seelenverwandtschaft, vor der absoluten Ruhe, der die Dämonen der Vergangenheit heraufbeschwört und in die Bedeutungslosigkeit drängt.

 

Leseprobe

Der Regen lässt nach, der Himmel lichtet sich. Die Wolken krallen sich noch eine Weile aneinander fest, bevor sie erst langsam, doch mit stetiger Gewalt, dann rasend, als wögen sie nichts, auseinandergerissen werden. Der Wind jagt hinein in das Grau und treibt die aufgeregten Wolkenbündel wie scheuendes Vieh in die Flucht. Die Luft ist klamm und kalt, auch wenn mit einem Mal die Sonne durchkommt. Es ist Januar, genauer Ende Januar; das neue Jahr ist schon vier Wochen alt.
„Es wird ein gutes Jahr!“, hatte man sich geschworen und in die Hand hinein versprochen, als man in der Silvesternacht um Punkt Zwölf das Glas erhoben und sich in den Armen gelegen hatte.

Über den Innenhof hinweg auf den Fernsehantennen kleben Tauben, Punkt an Punkt eng aneinander gedrückt wie Perlenkämme, die sich nun, im dahinter erscheinenden Sonnenlicht schwarz dagegen ab- zeichnen. Weit oben zieht ein Flugzeug ein weißes Band hinter sich her, das noch eine Weile unversehrt bleibt und dann zitternd zerfällt. Vom benachbarten Schulhof hört man die Kinder, die sich in ihrer Pause mit Geschrei vom erzwungenen Stillschweigen erholen. Und mit einem Mal erheben sich alle Tauben gleichzeitig und fliegen davon.

Sie sitzt vor dem Fenster und sieht, wie es draußen immer heller wird, sieht den einzigen Baum sich schwankend gegen den Wind behaup- ten, der indes nicht lange fackelt und ihm mit lautem Krachen einen bereits angebrochenen Ast entreißt und zu Boden sausen lässt. Nach unten hin wird der Stamm zu einem viertel seiner Höhe von der weiß gestrichenen Backsteinabgrenzung zum Schulhof hin verdeckt. So kann sie nicht sehen, was da auf dem Erdboden passiert.

Vor wenigen Jahren war ein junges Mädchen verschwunden. Als man es schließlich gefunden hatte, hatte es tot vor diesem Baum gesessen, mit dem Rücken an seinen Stamm gelehnt. Mitten in der Stadt, un- bemerkt im Hinterhof. Ein Kind noch. Die einzigen Anwohner, die es hätten sehen können, waren zu der Zeit in der Südsee gewesen, sodass die Leiche dort saß, bis jene ihren Urlaub beendet hatten. Sechzehn Jahre war das Mädchen geworden, als es sich zu dem Baum setzte, um sich, an seine Rinde geschmiegt, den „Goldenen Schuss“ zu setzen. Seither ist er für die Leute ein Unglücksbaum.

Der Ast ist direkt hinter der Mauer von den Kindern unbemerkt auf den Schulhof gefallen. Die rennen über den Schulhof oder klettern auf einem Spielgerüst mit rund angeordneten Pfählen und einem Dach aus rotem Seilwerk. Noch einmal fährt der Wind gewaltig durch das Geäst, bricht einen weiteren Ast ab und wirft ihn in den Schulhof, inmitten einer Gruppe von Kindern, die sich zu einem Abzählreim im Kreis aufgestellt haben. Sie erschrecken und rennen auseinander. Die Schulglocke beendet die Pause. Und in wenigen Minuten ist der Hof leer und still. Da erhebt sich der Ast und tanzt im Wind. Der lässt ihn sich in Anmut drehen und wirbelt ihn durch die Luft. Dann lässt er ihn vor der Mauer liegen. Nach oben braust er nun, treibt neue Wolken heran, schiebt sie zusammen, und in wenigen Minuten ist der Himmel wieder so grau wie zuvor.

Wenn sie morgens aufsteht, ist er schon aus dem Haus. Wenn sie abends zu Bett geht, ist er noch nicht wieder zurück. Er sieht sie, wenn er sich morgens aus dem Bett schält, vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Er will in Ruhe seinen Kaffee trinken, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit macht. Er sieht sie am Morgen und spät abends. Er sieht ihr dampfendes Schlafgesicht, die geschlossenen Augen, den aufgerissenen Mund, aus dem ein feiner Speichelfaden läuft und saurer Atem strömt und dreht sich weg. Manchmal, an den Wochenenden, lässt es sich nicht vermeiden, dass sie zusammentreffen. Dann berei- tet er auch für sie Kaffee und setzt sich schweigend ihr gegenüber. Er betrachtet ihr von schlecht abgeschminkten Make-up Resten verschmutztes Gesicht, die stumpfen, zerrauften Haare mit dem im- mer breiter werdenden weißen Streifen im lange schon künstlichen Schwarzbraun und sagt nichts

Anna Cron