Über das Stück
Sie, Helene, eine in Frankreich geborene Jüdin, hatte einen Teil ihrer Kindheit in einem Dorf in Deutschland zugebracht. Nach
dem entsetzlichen Erlebnis der Kristallnacht, in der die damals 16-jährige sexuell mißbraucht worden war, konnte die Familie nach
Amerika fliehen, wo Helene ein - wie man ihr sagte - nicht lebensfähiges Kind gebar. Er, zur Zeit der Nazidiktatur in Amerika geboren,
verbrachte dort seine Kindheit in einem jüdischen Waisenhaus und wanderte auf der Suche nach seinen Wurzeln nach Israel aus, wo er
und Helene einander begegnen.
Anna Cron hat ihr ursprünglich in Deutsch und Ivrith geschriebenes Hörspiel zum Bühnenstück umgearbeitet. Die erschütternde
Wahrheit zweier Menschen - ein jeder auf seine Weise Opfer des mörderischen Naziregimes - klärt sich in eindringlichem Dialog, der,
angesichts der faschistischen Renaissance in Europa, zutiefst betroffen macht.
Die Dokumentation, Ton- und Bildgestaltung in Köln, hat Anfang August diesen Jahres mit Angelika Zielcke und Werner Wölbern vom
Hamburger Thalia-Theater ein Hörbuch von Britting unter der Leitung von Joachim Schmidt von Schwind produziert.
Uraufführung mit
Christa Strobel & Hanfried Schüttler



Vier
Hélène:
(langer Blick auf Moshe, erstaunt)
Hier sitze ich und erzähle Ihnen meine Geschichte. Dabei kenne ich Sie nicht. Ich weiß nicht, wer Sie sind.
Moshe:
Erzählen Sie weiter.
(Schweigen, nach einer Weile:)
Bitte!
Hélène:
Man hat mich eines Kindes entbunden. Neun Monate nach der Kristallnacht.
(Schweigen)
Was für eine Nacht! Es war nicht lebensfähig, das hatte man mir gesagt.
(Schweigen)
Moshe:
Hätten Sie es geliebt?
Hélène:
Ob ich es geliebt hätte... ich bin nicht sicher. Es ist in Amerika geboren, es ist in Amerika gestorben. Es war von ihm.
(Pause)
Es hätte auch von einem der anderen sein können, aber es war von ihm.
(langes Schweigen)
Moshe:
Wollen Sie nicht antworten?
Hélène:
Als wir Kinder waren, rodelten wir mit dem Schlitten den Berg hinunter. Es war eine Baumreihe auf der rechten Seite der
Rodelbahn. Jedes Mal, wenn ich oben stand, sehnte ich mich danach, glatt den Hang hinunter zu gelangen, ohne zu stürzen,
ohne Schmerz. Doch wusste ich von Anfang an, ich werde auf die Bäume zurasen, werde mich verletzen; sogar die Art der
Verletzung war mir klar: Ich werde die Hand schürfen, werde mich stoßen und frierend, nass, eisig, zitternd aufstehen,
den anderen Kindern zulächeln: Es ist nichts passiert.
(Schweigen)
Liebe... was ist das für ein Wort... was für eine Sehnsucht... ob ich dieses Kind geliebt hätte, dieses... damals...
(Pause)
Ich heiratete in Israel. Mein Sohn wurde in Erez Israel geboren...
(Schweigen)
Wir gingen zurück. Wir gingen in dieses Dorf zurück. Doda Zipporah hatte nicht überlebt; wir bekamen ihr Haus. Wir waren
am Leben.
Moshe:
Sie hätten in Israel bleiben können.
Hélène:
Wir hätten bleiben können, aber wir haben es nicht getan.
(Pause)
Wer sind sie?
(Pause)
Was wollen Sie eigentlich von mir?
(Pause)
Sie sind ein gut aussehender junger Mann, was wollen Sie von einer Frau wie mir?
(Schweigen)
Lauschen Sie dem Meer! Hören Sie auf dieses gleichmäßige Rauschen des Meeres! Es ist immer das gleiche Lied.
Moshe:
Was geschah, als Sie zurück kamen?
Hélène:
Als wir zurück kamen, begegneten Sie uns mit scheuer Vorsicht. Insgeheim warfen sie uns vor, sie in die Lage des
Sich-Verteidigen-Müssens gebracht zu haben, verstehen Sie, was ich meine? Und sie verteidigten sich. Angeblich hatte
kaum jemand gewusst, was damals vor sich gegangen war; wenn man gewusst hätte, hätte man doch geholfen! Na, und so
schlimm kann es uns doch nicht ergangen sein - wir waren schließlich der lebendige Beweis dafür, dass es so schrecklich
nicht gewesen sein konnte.
Moshe:
Wie lebten Sie mit ihnen?
Hélène:
Bestens! Wir brauchten nicht mehr zur Kirche zu gehen. Wir durften nun offen Juden sein... offen, wissen Sie...
Moshe:
Erzählen Sie von Ihrem Wiedersehen mit ihm.
Hélène:
Ich kaufte bei ihm ein.
(Pause)
Als ich das erste Mal bei ihm einkaufte, stand er neben seiner Frau. Er hackte einen Schweinerücken auseinander. Er sah
mich nicht sofort, so hatte ich die Gelegenheit, ihn zu beobachten, während meine Gedanken zurückgingen. Ich sah...
(Schweigen)
Moshe:
Sie sahen...
Hélène:
Ich sah den Geschlechtsakt. Die Vergewaltigung. Ich sah dieses Mädchen und ihn. Ich sah dieses Mädchen, das ich gewesen
war, als sähe ich einen Filmausschnitt. Er schleifte sie an den Haaren durch den Hausflur. Ich erinnere mich an die Kühle
der Steinfliesen... ich spürte nicht, ich sah, während ich seinen Händen zusah, an denen dick bläuliche Adern hervor
traten... wenige rötliche Haare sprossen auf diesen Händen. Ich sah sie. Ich sah jede Kleinigkeit, alle diese Einzelheiten,
die sich so tief in meinem Gedächtnis festgesetzt haben... festgefroren...
Moshe:
Aber den Schmerz, das physische Empfinden, haben Sie vergessen...
Hélène:
Ich habe ihn vergessen:
(Pause)
Aber die Bilder nicht. Niemals werde ich die Bilder vergessen.
(Schweigen)
Moshe:
Und dann...
Hélène:
Er sah auf. Er erkannte mich auf Anhieb. Wir blickten uns in die Augen. Mir wurde heiß - eine glühende Straße von Aug
zu Aug. Sein Gesicht hatte sich kaum verändert: wimperlose, blasse Augen, die Ohren leicht abstehend, nach oben hin spitz
zulaufend und gerötet.
Moshe:
Was empfanden Sie bei seinem Anblick?
Hélène:
Mir wurde heiß.
(Pause)
Ja, ich fragte mich, ob die plötzliche Hitzewallung, die sich in meinem Körper ergoss, nicht dem Gefühl der Liebe glich...
im Augenblick des Sich-Erkennens... oder der Angst angesichts des Todes... ich spürte diesen glühenden Kern, der in meiner
Magengrube explodierte...
Moshe:
... der Augenblick des Sich-Erkennens... das haben sie schön gesagt.
Hélène:
Gefällt es Ihnen?
(Pause)
Es war nicht schön... ich wollte ihn hassen... ich war gekommen, um mich zu rächen...
Moshe:
Dann...
Hélène:
Dann? Dann sahen wir uns an. Er hörte damit auf, den Rücken des geschlachteten Tieres zu zerhacken. er legte das Beil auf
den Bock, seine Hände fielen hinab. Wir sahen uns immer noch an, während es in ihm arbeitete.
Moshe:
Wie genau sie sich erinnern!
Hélène:
Ja, ich sehe es deutlich vor mir... es sind die Bilder!
(Pause)
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich lächelte. Ja, ich lächelte...
Moshe:
Was tat er?
Hélène:
Er wischte die Hände an der Schürze ab.
(Pause)
Er wischte die Hände ab und kam, den Blick in meinem Blick fest gekrallt, langsam um die Theke herum auf mich zu. Ich
wollte schreien, wollte weg laufen. Doch ich blieb. Ich blieb wie festgewachsen stehen. Ich lächelte. Er reichte mir die
Hände, und ich lächelte. Er drückte meine Hände mit seinen beiden Händen fest zusammen. Ich musste an Handschellen denken -
ja, ich dachte an Handschellen.
(Pause)
Als er meine Hände los ließ, blieb etwas blutiges Fleisch an meiner Hand zurück... eine Faser seines zerlegten Opfers...
Moshe:
... Sie blieben...
Hélène:
Während Tränen über mein lächelndes Gesicht liefen, murmelte ich einen Gruß.
(Schweigen)
Moshe:
Bitte!
(Schweigen)
Sie murmelten einen Gruß... was tat er?
(Schweigen)
Er sagte...
Hélène:
„Gott sei Dank, da sind sie ja wieder...“
Moshe:
Und dann...
Hélène:
Er schwieg...
Moshe:
Was tat er dann?
(Schweigen)
Sie müssen es mir erzählen!
(Pause)
Er sagte...
Hélène:
... „Wir haben alle gelitten, glauben Sie mir, wir wollen die schlechten Zeiten vergessen.“ das sagte er.
(Schweigen)
Moshe:
Und Sie...
Hélène:
„Ja“, murmelte ich, „das wollen wir.“
Moshe:
Sie schämten sich.
Hélène:
Ja.
(Pause)
Moshe:
Was noch?
Hélène:
Plötzlich dachte ich an den Tod als etwas außerhalb von mir... das geschlachtete Tier...
(tiefes Schweigen)
Moshe:
Erzählen Sie mir von sich!
(...)
© Hartmann & Stauffacher
Uraufführung von „Britting”
Theateralisch-sinnliches Erlebnis
„Gewisse Meisterwerke des Theaters sind nicht ,Theater' im eigentlichen Wortsinn, sondern eher szenische Sinfonien ohne
jede dekorative Konzession.“
Dieser Satz von Jean Cocteau trifft auf „Britting“ zu. Kein Ausdruck träfe genauer das in der Stadthalle Dinslaken
stattgefundene Theaterereignis als „szenische Sinfonie“.
Still und beklemmend und doch von wundersamer Leichtigkeit, ergreifend in seiner poetischen Sprache, auf den Klangkompositionen
von Theodor Ross gleichsam schwebend, in einem hochartifiziellen Bild- und Tonraum, schlicht und raffiniert zugleich, wurde dem
Publikum eine Vorstellung geboten, die jedwede Erwartung übertraf. Die Dramaturgin Anna Bott - für sie war es die erste Regiearbeit
- und der Komponist Neuer Musik Theodor Ross haben das ursprünglich als Hörspiel konzipierte Stück zum theatralisch-sinnlichen Erlebnis gestaltet.
Zur Geschichte: Helene, eine ältere Frau (Christa Strobel) wird in Israel von einem jungen Mann (Hanfried Schüttler) verfolgt.
Zur Rede gestellt, erklärt er, mit ihr sprechen zu wollen über Johannes Britting, den Gefährten ihrer Kindheit, der in der Kristallnacht
mit einer Horde von Kumpanen die damals 16jährige mißbraucht hat.
In eindringlichem Gespräch wird das Ausmaß der seelischen Verletzung offenbar. Der junge Mann begreift sich selbst, seine Herkunft,
seine Identität.
Allein die Bühne, für die ebenfalls das Regie-Duo Bott / Ross verantwortlich zeichnet, ist es wert, beschrieben zu werden.
Die beiden Darsteller stehen im leeren Raum. Lediglich ein blutroter Schal weht vom Schnürboden herab: ein von Wind bewegtes,
Schuld symbolisierendes Zitat. “Gehen wir“, sagt Helene zu dem Mann, doch bleiben sie stehen, erstarrt, während die Dinge,
Zeit imaginierend, sich auf die Menschen zubewegen. Eine Tischgruppe fährt herein, die Protagonisten nehmen Platz, trinken Tee, essen
Eiscreme, unterhalten sich. Während er sie behutsam doch hartnäckig auf den Weg der Erinnerung an ihre schrecklichen Erfahrungen in
Nazi-Deutschland führt, erhebt sich der Himmel über ihnen: Ein azurblauer Meer-Himmel-Prospekt wird langsam hochgezogen. Magisch
ersteht der Tag. Im weiteren Verlauf wird er zum strahlenden Meer mit glühend-gleissendem Lichthorizont von schmerzlicher Schönheit.
Und schmerzlich wird die Vergangenheitsreflexion für Helene und schmerzlich die Erkenntnis zu der der Fragende gelangt. Wie von
Geisterhand bewegt entschwindet die Tischgruppe, erscheint eine Kaimauer, für einen Augenblick die Illusion eines unbeschwerten
Strandspaziergangs vermittelnd. Doch kurz nur währt dem Moment: in die Gewalt der Gefühle, die Auseinandersetzung mit dem erlebten
Leid fährt das Meer nach oben.
Schon ist nur ein blauer Streifen sichtbar, löst auch er sich auf, läßt das soeben noch reale Bild - bereits Erinnerung -als
Hirngespinst der Phantasie des Betrachters erscheinen. Ein jedes Ding hat seine Bedeutung, zieht das Publikum ins Geschehen hinein,
läßt es die furchtbare Geschieht quasi mitempfinden.
Nicht zu trennen von der Bühne ist die Musik, wird zum Klangbild. Das Rauschen des Meeres, aus dem die martialisch stampfenden
Schritte der Soldaten zu marschieren erscheinen, Chorfetzen, entfernte Schreie, Explosionen, Schüsse, ein Kinderlachen, Vogelgezwitscher
auf dem Dorfplatz, bilden eine große Einheit von metaphorischer Kraft, ohne von Symbolen überladen zu sein. Hervorragend sind sie,
die beiden Schauspieler, wie sie da um Identität ringen und schließlich in der ergreifenden Wahrheit das Gemeinsame ihrer Geschichte
begreifen: Er ist ihr Sohn, gezeugt durch Vergewaltigung in der Kristallnacht.
Sein Vater war Britting. Hanfried Schüttler als Moshe und Christa Strobel als Helene, zwei zutiefst beeindruckende Interpreten.
H.G. Raeth, Niederrhein-Anzeiger, 05.04.1995
Einfache Antworten sind nicht gefragt -
„Britting” sucht sensibel nach Schuld
„Britting“: Ein Stück wie ein helles Schlaglicht auf die Verzweiflung, die Trauer und Ausweglosigkeit menschlichen
Daseins. Und doch - ist „Britting“ eine Inszenierung der leisen Töne, der Zwischentöne, gespielt mit zarter Vorsicht in
der Annäherung zweier Menschen - ein Stück mit Hoffnung.
Die Burghofbühne Dinslaken zeigte diese Inszenierung am Freitag im Kurhaus. Für die wenigen Zuschauer war das ein Theaterereignis,
eine „szenische Sinfonie“, kompromißlos-schlicht in der Wahl ihrer Mittel, beachtlich und selbstlos in der schauspielerischen
Leistung von Christa Strobel und Hanfried Schüttler.
Zum 50. Jahrestag der Befreiung von der Naziherrschaft wurde das Zwei-Personen-Stück im vergangenen Jahr am Landestheater Dinslaken
uraufgeführt: Moshe, ein Amerikaner mit israelischen Paß, verfolgt in Israel am Strand die aus Deutschland stammende Helene, weil er
weiß, daß sie seine Mutter ist und weil er etwas über seinen Vater erfahren will. Sein Vater heißt Johannes Britting - ein Metzgermeister
aus dem Fränkischen, in jungen Jahren Verehrer der Jüdin Helene. In der Reichskristallnacht wurde er ihr Vergewaltiger.
„Wer sind Sie? Warum verfolgen Sie mich? Was wollen Sie von mir?“ Immer eindringlicher stellt Christa Strobel
in der Rolle der Helene ihrem „Verfolger“ - dem Sohn - diese Frage. Ohne es offen auszusprechen, weiß er, wer sie ist.
Sie weiß zunächst nichts - über Moshe, dieses „Findelkind“, das in einem jüdischen Waisenhaus in Amerika großgeworden
ist und später nach seinen europäischen Wurzeln forschte.
Das ursprünglich als Hörspiel konzipierte Stück von Anna Cron wurde von der Dramaturgin Anna Bott und dem Komponisten Neuer
Musik, Theodor Ross, für das Theater inszeniert und arrangiert. Es ist ein kleines, eindringliches Kammerspiel, das die Mittel der
Bühne mit Bedacht und äußerster Vorsicht einsetzt: Langsam hebt sich ein blauer Vorhang, der Himmel, Horizont und Meer andeutet.
Erst eine Sitzgruppe, dann ein weißer Stein fahren auf die Bühne und ein leiser, aber stetiger Klangteppich aus Straßen- und
Strandgeräuschen unterstreicht die Szene. Bedrohliche Stiefelschritte und seltsame Sphärenklänge führen in wellenförmigem Rhythmus
die zwei Menschen zu den dramaturgischen Höhepunkten der Inszenierung.
„Britting“ wird so zu einem ganz außergewöhnlichen Theaterabend, der die Dimensionen von Schuld und Leid auf
eine Weise ausleuchtet, die keine einfachen Antworten mehr zuläßt. Mehr als 50 Jahre „danach“ hat „Britting“
deshalb keineswegs an Brisanz verloren. Es darf und muß leider nach wie vor gespielt werden.
Ina Helling, Westfälischer Anzeiger, 19.03.96